Fernsehfriedhof

Der Skandalfriedhof: Eine verhängnisvolle Affäre

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Christian Richter erinnert an Aufreger im Fernsehen, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 294: Ein schwuler Kuss im deutschen Familienprogramm, der zu heftigen Protesten führte.

Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir den erschütternd konservativen Ansichten vieler deutscher Zuschauer.

"Der schwule Kuss" ereignete sich am 25. März 1990 und damit zu einer Zeit, als Homosexualität im deutschen Fernsehen noch kaum thematisiert wurde - vor allem nicht in fiktiven Formaten oder gar Familiensendungen. So ließ das Erste beispielsweise die Ausstrahlung der Episode "Royal Marriage" (Dt. Titel "Halbromantisch") von «Dallas» trotz des überragenden Erfolgs der Serie aus, weil darin der schwule Kit zu einer Ehe mit einer Frau gedrängt wurde. Obwohl die Folge bereits im Jahr 1979 erstmals im amerikanischen Programm zu sehen war, erfolgte die Deutschlandpremiere allen Ernstes erst im November 2011. Im «Denver Clan» tauchte dann Mitte der 80er Jahre im ZDF mit Steven Carrington eine homosexuelle Figur auf, die allerdings - je nach Zustimmung der Zuschauer - ebenso Beziehungen zu Frauen hatte. Umso mutiger war es daher, dass der Autor Hans W. Geißendörfer im Jahr 1985 in seiner neuen Vorabendreihe «Lindenstraße» von Anfang an beabsichtigte, mit Carsten Flöter einen schwulen Hauptcharakter zu etablieren.

Dies musste jedoch entsprechend vorbereitet werden, wie sich der Darsteller Georg Uecker in einem Gespräch mit Stephan Borg erinnert: "Wir haben Carsten ein Jahr lang eingeführt als jungen, netten, zuvorkommenden und freundlichen Mann, damit er dann am Ende des Jahres schwul werden konnte. Wir mussten über ein Jahr einen idealen Schwiegersohn für das 'bürgerliche' Publikum bauen, damit die Rolle überhaupt die Chance hatte, von einem heterogenen Massenpublikum angenommen zu werden." Dies schien tatsächlich funktioniert zu haben, denn als das Coming-Out von Carsten Flöter erfolgte und es im Jahr 1987 schon zu einem ersten Kuss zwischen ihm und der Figur Gerd Weinbauer kam, folgten kaum negative Reaktionen vom Publikum.

Rund drei Jahre später begann dann aber die Rolle Carsten Flöter im Rahmen der Serie eine Affäre mit dem Fiesling Robert Engel, die in der Folge 225 zu einem weiteren kurzen Kuss zwischen zwei Männern führte. Eine Szene mit einer Länge von exakt 2,72 Sekunden, die in einer Abblende endete und für enormen Wirbel sorgen sollte. Nach ihrer Ausstrahlung erreichten den Sender, die Autoren sowie die Produktionsfirma nämlich unzählige Protestbriefe, Beschimpfungen, Mord- und sogar Bombendrohungen. Schauspieler Georg Uecker bekam ebenfalls viele an ihn adressierte Beschwerden, wie er gegenüber dem SWR2 angab: "Ich hab mich [...] über die Tonalität teilweise in den Drohungen erschreckt, weil sie von einem solchen Hass geprägt waren. Also von wildesten Kastrations- und Mordphantasien, von KZ bis § 175 - Euch haben sie vergessen – das ganze Programm. Und nicht ein oder zwei Briefe, sondern kistenweise." Zuweilen wären die Zuschriften derart anstößig und beleidigend gewesen, dass die Redaktion sie den Darstellern noch jahrelang vorenthalten hätte. Uecker selbst zog sich daraufhin etwas aus der Öffentlichkeit zurück und erhielt Personenschutz. Der verantwortliche WDR stellte indessen Strafanzeige gegen die Drohenden.

Obwohl die Drehbücher und Endfassungen aller Ausgaben vor der Umsetzung und Ausstrahlung geprüft und freigegeben wurden, stellten sich einige Führungskräfte innerhalb der ARD gegen die Produktion. Der Bayerische Rundfunk weigerte sich beispielsweise die entsprechende Folge in seinem Regionalprogramm zu wiederholen. Außerdem wurde eine spätere Episode, in der es einen weiteren Kuss zwischen den Männern geben sollte, noch einmal umgeschnitten. Laut Georg Uecker mit folgender Begründung: "Es wurde gesagt, dass es unmöglich sei, einen Kuss zwischen zwei Männern zu zeigen, während Kinder das Programm sehen. Die Folge wurde wegen der WM schon um 16 Uhr ausgestrahlt. Ich habe aber nicht verstanden, weshalb Kinder vor solch einem TV-Kuss 'beschützt' werden sollten."

Durch den großen Druck konnte selbst Geißendörfer eine Einflussnahme von außerhalb nicht mehr unterbinden, sodass es nach den Widerständen sichtbare Veränderungen in der Serie gab. Zunächst verschwanden sämtliche intimen Momente zwischen Flöter und Engel, sodass gar nicht mehr die Gefahr einer weiteren schwulen Interaktion aufkommen konnte. Stattdessen enthielten gemeinsame Szenen fortan nur noch angespannte Stimmungen. Darüber hinaus wandte sich Robert Engel wieder ausschließlich den Frauen zu, wodurch seine gleichgeschlechtliche Affäre zu einem flüchtigen Abenteuer degradiert wurde. Schließlich musste Carsten Flöter die Lindenstraße für einen mehrjährigen Aufenthalt in Australien verlassen.

Dennoch schätzt Uecker die Ereignisse rückwirkend als wichtig ein, denn unter all den Reaktionen fanden sich auch positive Rückmeldungen und Liebesbriefe. Zudem hätte er von vielen jungen Menschen erfahren, dass sie die besagte Szene als Anlass genutzt hätten, um über ihre eigenen homosexuellen Neigungen mit ihren Familien zu sprechen. Der gleichen Ansicht schien die Schwul-Lesbische-Community gewesen zu sein, denn Hans W. Geißendörfer wurde im Jahr 2005 vom Schwulen Netzwerk NRW mit der Goldenen Kompassnadel für seine Verdienste ausgezeichnet. Diese erhielt er zugleich dafür, dass es in der «Lindenstraße» im Jahr 1997 die erste schwule Hochzeit und später die erste Adoption durch einen schwulen Mann zu sehen gab.

"Der schwule Kuss" beschäftigte die Beteiligten rund ein Jahr. Er hinterließ den Darsteller Georg Uecker, der im Jahr 1995 zur «Lindenstraße» in seiner Rolle als Carsten Flöter zurückkehrte und dort bis heute zu sehen ist. Sein Serienpartner Martin Armknecht schlüpfte nach seinem Ausstieg in die Rolle des kauzigen Ermittlers in «Ein Mord für Quandt». Seine Figur Robert Engel endete übrigens wegen Drogenhandels im Gefängnis.

Die nächste Ausgabe des Skandalfriedhofs erscheint am kommenden Donnerstag und widmet sich dann einem Interview mit der bekanntesten Praktikantin der Welt.

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